Industrie 4.0 – vorbereiten, ja! Aber wie?

Produktionsbereiche und Prozessketten erfordern eine optimale Abstimmung, um mit geringem Aufwand an Zeit, Kosten und Energie arbeiten zu können. Dabei stellt ERP-Software ein wichtiges Element zur Erfüllung der Anforderungen. Inzwischen ist die Leistungsfähigkeit soweit fortgeschritten, dass die mit dem Begriff Industrie 4.0 belegte nächste Stufe der Vernetzung in Angriff genommen werden kann.
Nachbericht WoMAG 11/2016

Vortrag Industrie 4.0 auf ZVO Oberflächentagen 2016

Dazu ist es notwendig, die einzelnen Teile eindeutig zu identifizieren und deren Verlauf in der Prozesskette zu verfolgen und bei Bedarf zu steuern. Für die Oberflächentechnik entstehen dabei spezielle Herausforderungen, die beispielsweise durch einen hohen Grad an Kommunikation über die Prozesskette oder eine intensive Organisation und Abstimmung zwischen den einzelnen Stufender Lieferkette bewältigt werden könnten.

Auf dem diesjährigen ZVO-Kongress Oberflächentage 2016 vom 21. bis 23. September in Garmisch-Partenkirchen zeigte Michael Hellmuth, Vorstandsvorsitzender des Karlsruher Branchen-ERP-Anbieters Softec AG, praxisbezogene Ansätze, wie sich oberflächenveredelnde kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) organisatorisch und technologisch auf Industrie 4.0-Bestrebungen ihrer Industriekunden vorbereiten können.

1  Blick in die Industriegeschichte

Seit Ende des 18. Jahrhunderts haben verschiedene industrielle Revolutionen die Arbeitsprozesse fundamental verändert. Wasser- und Dampfkraft haben ab 1775 zur Mechanisierung, die Arbeitsteilung zur Massenproduktion und die Mikroelektronik zur Automatisierung geführt. Seit 2011 wird vorangetrieben, was als vierte industrielle Revolution – oder kurz: Industrie 4.0 – bezeichnet wird: die umfassende Vernetzung von Kunden, Maschinen, Ressourcen und Produkten als zweite Phase der Digitalisierung. Industrielle Prozesse werden in dieser zweiten Phase einen neuen Grad der Autonomie erreichen. Es entstehen, so die Prognose, cyber-physische Systeme (CPS), in denen Maschinen, Produkte und Anwendungen eng miteinander vernetzt sind und – zumindest teilweise ohne Beteiligung des Menschen – direkt miteinander kommunizieren.

Auch bei der abschließenden Lieferscheinerstellung für das fertige Packstück wird wertvolle Bearbeitungszeit gespart: Indem die Identifikationsnummer der gesamten Verpackungseinheit abgescannt wird, werden alle dazugehörigen Positionen direkt in den Lieferschein aufgenommen.

2  Lessons Learned – was wir aus der Geschichte lernen sollten

Besonders die ersten beiden industriellen Revolutionen, die den Übergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft mit sich brachten, haben zu einem anhaltenden strukturellen Wandel des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens geführt. Die Zunahme der Produktivität und die Steigerung der Produktqualität gingen einher mit einer Veränderung bei Arbeitsprozessen und Arbeitsbedingungen. Auch die Nachfrage passte sich schnell an die neuen Möglichkeiten und Errungenschaften der Industriegesellschaft an, wie das berühmte Henry Ford-Zitat bezeugt: “Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt schnellere Pferde.”

Unternehmen, die sich nicht schnell genug auf diese massiven, systemveränderndenkonnten (disruptiven) Auswirkungen einstellen, gingen unter und wurden durch andere ersetzt. Der Blick in die Geschichte sollte Anstoß sein, die mit Industrie 4.0 einhergehenden Anpassungen nicht als Beobachter abzuwarten, sondern die Veränderungen aktiv mitzugestalten.

3  Treiber der Veränderung

Blicken wir in die Oberflächenbranche und hier zunächst auf die Kundenseite. Der Automotive-Sektor gehört neben dem Maschinenbau zu den wichtigsten Auftraggebern der Oberflächenveredelungsbranche. Gleichzeitig werden Automobilzulieferer mit einer Unternehmensgröße von mehr als 500 Mitarbeitern laut einer Umfrage des Beratungsunternehmens Pierre AudoinConsultants zu den Early Adopters (Frühstartern) von Industrie 4.0 zählen. Da in einer vernetzten Welt Insellösungen keine Zukunft haben, ist es folgerichtig, dass sich auch oberflächenveredelnde Unternehmen mit ihren Kunden und weiteren Akteuren der Lieferkette vernetzen, um am Markt zu bestehen. Dazu wandelt sich die Nachfrage auf Endkundenseite: Anstelle von Produkten werden zunehmend Mehrwertlösungen gefordert, die sich nur durch eine intensive Vernetzung mit Kunden und Partnern realisieren lassen. Ständig kleiner werdende Losgrößen erzwingen ein hohes Maß an Flexibilität, das zum wichtigsten Treiber von Industrie 4.0 wird.

  • Unterschiedliche Einflüsse wirken sich dabei auf die Anforderungen aus:
  • Kundenwunsch nach Individualität
  • schwankende Nachfrage, volatile Märkte
  • globaler Wettbewerb
  • Ressourcenknappheit
  • ökologische Aspekte
  • Kostendruck

Für den lohnbeschichtenden Unternehmer gilt es, sein Augenmerk auf die eigene Wettbewerbsfähigkeit hinsichtlich Qualität, Kosten- und Zeiteffizienz, Ressourceneffizienz, Wirtschaftlichkeit, Flexibilität und Robustheit zu richten.

4  Ansatzpunkte zur Vorbereitung auf Industrie 4.0

Vorweggenommen: Es gibt kein allgemeingültiges Rezept, mit welchen Punkten begonnen werden soll. Abhängig vom Startniveau sowie bereits existierenden und zu erwartenden Kundenforderungen sind verschiedene Vorgehensweisen denkbar und sinnvoll. Zunächst sollten Maßnahmen ergriffen werden, die zwar auf Industrie 4.0 vorbereiten, einem Lohnveredler aber bereits heute Mehrwert im Sinne von Effizienzsteigerung und Kostenreduktion generieren.
 
Diese Maßnahmen zu identifizieren und im Rahmen klar begrenzter Investitionsentscheidungen in Angriff zu nehmen, ist für einen mittelständischen Lohnveredler der richtige Ansatz. Denn ein großes Manko besteht weiterhin: Trotz intensiver Bemühungen beteiligter Verbände, Großunternehmen und Ministerien fehlen verbindliche IT-technische und rechtliche Standards. Der Veränderungsprozess hin zu Industrie 4.0 kann Stand heute also nicht als Hau-ruck-Aktion gestemmt werden. Er sollte als Halbmarathon begriffen werden mit dem Ziel, die Themen Digitalisierung und Systemvernetzung in den nächsten Jahren weiter zu bearbeiten.

In der Lohnveredelung liegt der Fokus auf Vernetzung in Produktion, Lieferkette, Produkt und Organisation. Zu jedem dieser Punkte sind im Nachfolgenden einige Überlegungen angestellt.

4.1  Ansatzpunkt: Produktion

Hinter dem Schlagwort Smart Factory verbirgt sich die Vision einer Produktion, in der sich Fertigungsanlagen und Logistiksysteme ohne menschliche Eingriffe weitgehend selbst organisieren. Je nach Technologiestand des Lohnbeschichters lassen sich verschiedene Ansatzpunkte finden, die bereits heute in Angriff genommen werden können. Produktivitäts- und Flexibilitätssteigerungen lassen sich durch die Vernetzung von intelligenten Produktionssystemen mit dem ERP-System erreichen. Eine Kopplung zwischen ERP-System und dem Leitrechner einer modernen Anlage ist heute Stand der Technik.

Der nächste Schritt ist die Einbindung der Anlage in die Fertigungsplanung. Die Anlagen eines Lohnbeschichters sind in der Regel im Detail so heterogen, dass mit einer vereinfachenden Planung nicht die angestrebten Ergebnisse erzielt werden können. Stattdessen müssen die Leitrechner der Anlagen mit ihrem Wissen in die Planung einbezogen werden. Dazu werden Simulationen mit unterschiedlichen Optimierungszielen – Kosten, Ressourcen (Energie, Chemie, Umweltfaktoren), Termin, Losgrößen – durchgeführt, die wiederum in die Planung einfließen. Neben der Erfassung von klassischen Betriebsdaten können dann auch die tatsächlichen  Ressourcenverbräuche an den Anlagen erfasst werden, die ebenfalls Einfluss in die Planung finden.

Moderne Steuerungen der Automaten liefern die Werte sogar warenträgerbezogen, sodass sich nebenbei ein sehr genaues Bild des Energie- und Ressourcenverbrauchs ergibt, das beispielsweise als Grundlage für DIN EN ISO 50001 und 14001 nutzbar ist.

4.2  Ansatzpunkt: Lieferkette

Aus verständlichen Gründen wird der Fokus gerne auf das eigene Unternehmen gerichtet. Ein Blick auf das Endprodukt zeigt aber ebenfalls erhebliches Optimierungspotenzial. Unternehmen tauschen künftig nicht nur klassische Auftragsdaten aus; sie vernetzen sich, sodass das Gesamtsystem der Wertschöpfung sichtbar und eine unternehmensübergreifende Optimierung ermöglicht wird. Auch dafür kommen dieselben Optimierungsfaktoren wie bei der Optimierung von Produktionsabläufen in Betracht:

  • Kosten
  • Ressourcen (Energie, Chemie, Umweltfaktoren)
  • Termin
  • Losgrößen

Die Tatsache, dass es sich um dieselben Faktoren handelt, belegt die Schlüssigkeit von Vernetzung. Gleichzeitig setzt Vernetzung jedoch ein hohes Maß an Offenheit und gegenseitigem Vertrauen zwischen den Partnern voraus – und fordert Werkzeuge, die das Sicherheitsbedürfnis des Einzelnen befriedigen. Die Blockchain-Technologie könnte ein Instrument sein, um die Anforderungen an Echtheit, Unveränderbarkeit und Transparenz von Daten zu erfüllen. Durch den Einsatz dieser oder einer vergleichbaren Technologie könnten Produktionsdokumente entlang der Lieferkette als digitale Akten unveränderbar und verlässlich mit einfachen Standards allen Berechtigten
zur Verfügung gestellt werden.

4.3  Ansatzpunkt: Produkt

Im Zusammenhang mit Industrie 4.0 und dem Internet der Dinge ist oft von intelligenten Produkten die Rede. Einem Blechteil, das galvanisiert werden soll, kann beim besten Willen keine Intelligenz zugesprochen werden. Hier kann aber die  Charge oder die Handling Unit einspringen – zur Identifikation des Fertigungsloses und als Aufhänger für den Zugriff auf die Produktionsdokumentation. Bei einer Kolbenstange, die hartverchromt wird, ist eine eindeutige Identifizierung zum Beispiel durch einen einfachen Barcode möglich. Damit bietet sich die Möglichkeit, das Teil mit seiner digitalen Akte zu verknüpfen. Neben dem einfachen Barcode kommt eine Reihe anderer Identifikationsverfahren wie zum Beispiel RFID, mit denen Daten direkt beim Teil gespeichert werden, in Betracht.

Der Datenumfang, der einem Teil oder einer Charge mitgegeben wird, ist ebenfalls nach Art des Identifikationsmediums unterschiedlich. Ein Barcode, auch wenn er zweidimensional ist, kann nur sehr begrenzt Informationen aufnehmen. Die Informationen sind außerdem statisch und werden nicht fortgeschrieben. IntelligenteTags können dagegen im Prozess beschrieben und fortgeschrieben werden. Die Produktionsdokumentation erfasst jedes Einzelteil, das damit ein digitales Produktgedächtnis bekommt.

Nicht nur aus Kostengründen spricht viel dafür, dem Teil nur eine einfache Identifikation mitzugeben, gleichzeitig aber eine überall verfügbare Möglichkeit zu schaffen, Produkt- und Produktionsinformationen abzurufen. Hier kann die Blockchain-Technologie sichere, unveränderliche und flexibel abrufbare Daten liefern.

4.4  Ansatzpunkt: Organisation

Ganzheitlich betrachtet bietet Industrie 4.0 hierarchielose Kommunikationsstrukturen, wie sie im Internet üblich sind. Durch die umfassende Vernetzung von Maschinen, Logistik und Produktion werden Entscheidungen dezentral, autonom und unabhängig getroffen. Das führt zwangsläufig zu strukturellen Änderungen im Unternehmen. Netzwerke kennen keine Hierarchien. Die Vernetzung nach innen und nach außen verändert nicht nur die Geschäftsprozesse, sondern auch das Verhältnis von Auftraggeber und Lieferant, den unternehmensinternen Arbeitsalltag sowie Führungsstrukturen.

5  Digitaler Zwilling

Die neuen Herausforderungen führen dazu, dass die zukünftige Rolle der ERP-Systeme im IT-Verbund von Industrie 4.0 neu festgelegt werden muss. Im ERP-System laufen kaufmännische und produktionstechnische Abläufe eines Unternehmens in einem Datenmodell zusammen. Aus diesem Grund wird das ERP-System auch im cyber-physischen System zentraler Informationslieferant sein. ERP-Systeme sind daher genauso einem massiven Wandel unterworfen wie alle anderen Systeme und Prozesse im Unternehmen. Zentral ist, ein flexibles und erweiterbares ERP-System im Einsatz zu haben, das Schnittstellen zum Kunden und in die Produktion zur Verfügung stellen kann. Darüber hinaus sollte der ERP-Anbieter ausreichend Innovationsgeist mitbringen, um die Entwicklungen aktiv voranzutreiben, die in der Oberflächenbranche kundenseits anstehen werden.

In der künftigen Smart Factory wird das ERP-System die Innen- und die Außenwelt vernetzen und die Kommunikation zwischen beiden herstellen. Alle realen Produkte und Dienstleistungen werden auch virtuell im ERP-System existieren. Durch diese digitale Abbildung von Produktion und Produkten entsteht im ERP-System ein digitaler Zwilling, der die zentrale Brücke schlägt zwischen physischen Produktionsprozessen und Produkten auf der einen und deren virtueller Darstellung auf der anderen Seite.

6  Zusammenfassung

Die Lösung zu Industrie 4.0 wird es nicht out of the box geben. Sie wird in unterschiedlichen Unternehmen mit unterschiedlichen Kunden auch verschieden aussehen. Noch sind wir am Anfang einer Entwicklung. Der Blick in die Historie zeigt aber, dass Veränderungen besser gestaltet als abgewartet werden. Unternehmer in der Oberflächenveredelung haben die Aufgabe, sich mit der Anpassung des eigenen Unternehmens hinsichtlich Industrie 4.0-Entwicklungen aktiv zu beschäftigen. Dabei sollten die Ansatzpunkte zuerst gewählt werden, die dem Unternehmen und seinen Kunden bereits heute einen Nutzen sichern. Die entscheidende unternehmerische Frage ist, wo das eigene Unternehmen zuerst smart werden soll.

Vortrag von Michael Hellmuth, Vorstandsvorsitzender Softec AG, auf den ZVO Oberflächentagen 2016

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