Die Zukunft heißt Industrie 4.0 – Oberflächentechnik mit neuer Herausforderung

Industrie 4.0 – über die Zukunft der Industriellen Fertigung wird viel diskutiert, geforscht und geschrieben. In den nächsten Jahren werden einige Herausforderungen auf die Betriebe der Oberflächentechnik zukommen. Wie können sich Unternehmen bereits jetzt vorbereiten?
Erschienen im mo Magazin für Oberflächentechnik 4/2016

Spätestens 2025 wird Industrie 4.0 laut VDE Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik e.V. Realität sein. Das bedeutet, dass in den Unternehmen digitale Systeme entstehen, über die Maschinen, Produkte und Anwendungen miteinander vernetzt sind und – zumindest teilweise ohne Beteiligung des Menschen – direkt miteinander kommunizieren. Diese Systeme werden cyber-physische Systeme (CPS) genannt.

Maschinen und Anlagen sind eine Komponente des cyber-physischen Systems. Sie sollen Daten laufend in ein Informationsnetzwerk einspeichern und aus diesem Daten beziehen. In diesem Netzwerk sind sogenannte Software-Agenten zwischengeschaltet. Software-Agenten sind Softwareprogramme, welche die Daten verwerten und in der Lage sind, zu einer klar begrenzten Teilaufgabe selbstständig weitere Prozesse auszulösen. Die eigentliche Revolution, die als Industrie 4.0 begriffen wird, erfolgt also nicht in erster Linie bei den Maschinen selbst. Die eigentliche neue und entscheidende Komponente sind die Software-Agenten und ihre Rolle bei der sinnvollen Auswertung und Nutzung von Daten.

Software-Agenten als Akteure im Auftragsdurchlauf

Heute wird der Auftragsdurchlauf in der Lohnbeschichtung fast vollständig von Menschen gesteuert: Der Mitarbeiter in der Auftragsabwicklung erfasst die Aufträge – Ausnahmen bilden EDI-Lösungen, bei denen Aufträge elektronisch direkt im System eingehen. Danach plant ein Mitarbeiter den Auftrag mithilfe des ERP-Systems ein, bereitet den Betriebsauftrag für die Fertigung vor, überwacht die Fertigung softwaregestützt und stößt den Versand an. Ein Teil des Prozesswissens ist schon in den ERP-Systemen hinterlegt, so dass teilautomatische Prozesse, zum Beispiel der automatisierte Versand eines Erstmusterprüfberichts oder die Warnung vor Planänderungen bei entsprechenden Rückmeldungen aus der Anlagenkopplung, bereits heute möglich sind.

Der andere Teil des Prozesswissens steckt aber noch in den Köpfen der Mitarbeiter. Wenn sich in Zukunft die Aufträge selbstständig den Weg durch die Produktion suchen sollen, müssen zwei Dinge sichergestellt sein: Zum einen muss der Auftrag über einen Microchip, der am Behälter oder am Werkstück klebt, mit dem Netzwerk verbunden sein, so dass er auf seinem Weg durch die Fabrik mit Robotern und Anlagen kommunizieren kann. Zum anderen muss das für die Steuerung erforderliche Wissen der bisherigen Entscheider im cyber-physischen Gesamtsystem zur Verfügung stehen. Denn an vielen Stellen im Prozess werden anstelle von Menschen Software-Agenten zu Entscheidern, die kleine, auf ihren Bereich beschränkte Einzelentscheidungen treffen.

Industrie 4.0: Vorteile bereits heute nutzen

Diese konsequente Digitalisierung in der Fertigung ist noch Zukunftsmusik. Als Akteure in Lieferketten der Großindustrie wie beispielsweise der Automobilindustrie oder dem Maschinenbau sollten sich Lohnbeschichter dennoch bereits heute mit Industrie 4.0 auseinandersetzen und deren Vorteile nutzen. Zu einem wichtigen Vorbereitungsschritt gehört zweifellos die Datenaufbereitung. Neben den Prozessdaten, die im Konzept von Industrie 4.0 von den Anlagen und Maschinen rückfließen werden, existieren eine Vielzahl an Stammdaten zu Kunden, Artikeln und Verfahren, die in den ERP-Systemen der Unternehmen gepflegt werden. In der präzisen Pflege dieser Daten, ihrer Vernetzung untereinander und Transformation zu auswertbarem Wissen liegt schon heute großes Potenzial für eine Effizienzsteigerung in der Produktion, für kürzere Durchlaufzeiten und eine bessere Positionierung im Wettbewerb.

Auch die Anpassungsfähigkeit der eigenen Planung an veränderte Bedingungen kann überprüft werden. Ist das eingesetzte ERP-System in der Lage, flexibel zwischen alternativen Fertigungsmöglichkeiten zu wechseln? In einem klassischen Galvanikunternehmen gibt es mehrere Möglichkeiten eine bestimmte Oberfläche herzustellen: als Gestell- oder Trommelware, am Automaten oder in der Handanlage, intern oder über externe Partner. Ein ERP-System muss diese alternativen Fertigungsmöglichkeiten nicht nur kennen, sondern auch in der Lage sein, zwischen diesen zu wechseln – mit allen Auswirkungen auf Rezepturen, Prüfpläne und Mitarbeitereinsatz, die ein solcher Wechsel mit sich bringt.

Maschinenrückmeldung und Netze

In vielen oberflächenveredelnden Unternehmen werden Fertigungsdaten über Anlagenkopplungen an das führende System rückgemeldet. Auch Betriebsdatenerfassungen über mobile Anwendungen sind bereits Realität. Allein die Konsequenz fehlt. Nicht alle Anlagen melden Daten an das ERP-System zurück und wo dies geschieht, werden Daten in der Regel nur gesammelt, aber nicht konsequent ausgewertet. Ziel sollte sein, „big data“ in „smart data“ zu überführen, also aus der reinen Datensammlung Wissen zu destillieren, mit dessen Hilfe bessere Entscheidungen getroffen und Prozesse angestoßen werden können. Unternehmen, die eine hohe Konnektivität ihrer Systeme und Anlagen sicherstellen und den Rückfluss von Echtzeitdaten in Planung und Prognose konsequent betreiben, stellen sich gleichzeitig gut auf für Industrie 4.0.

Kein Netzwerk ohne Netz: So einfach lässt sich ein weiterer Vorbereitungsschritt auf Industrie 4.0 zusammenfassen. Laut einer aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung sind bislang erst rund fünf Prozent der Mittelständler umfassend vernetzt und nutzen höhere Cloud-Computing-Dienste. Lohnbeschichter sollten hinterfragen, wie stabil ihr mobiles Netzwerk in der Fertigung ist, um mobile Anwendungen und Anbindungen mittelfristig überhaupt realisieren zu können.

Auch Software-Anbieter müssen ihr Lösungsspektrum verstärkt auf Web-Services ausrichten und insbesondere für fertigungsbezogene Anwendungen Technologien auf Basis von Web-Protokollen anbieten. Diese sind die Grundlage, um Produktionsdaten auf allen gängigen Geräten von PCs über Tablets bis zum Web zugänglich zu machen. Ob ein Systemanbieter mobile Anwendungen bereits realisiert, sollte bei einer anstehenden IT-Entscheidung deshalb in jedem Fall eine Rolle spielen.

Oberflächentechnik: Umdenken notwendig

Nicht alle Aspekte von Industrie 4.0 können von Lohnbeschichtern vorgedacht werden. In vielen vor allem technologiebasierten Bereichen gibt es Stand heute keine übergreifenden Standards. So arbeitet die Verbändeplattform Industrie 4.0 von ZVEI, VDMA und BITKOM derzeit an einer “Referenzarchitektur Industrie 4.0”. Verbindliche Festlegungen können daraus noch nicht abgeleitet werden. Gefahr im Verzug besteht also nicht. Trotzdem: Viele Anpassungen laufen schleppend, weil sie im Kopf der Entscheider nicht rechtzeitig Raum gefunden haben. Es gilt, als mittelständischer Oberflächenveredler die Auseinandersetzung mit Industrie 4.0 als Muss zu begreifen.